Montag, 19. Mai 2014

Was Wahlstatistiken uns wirklich erzählen – eine ungewöhnliche Analyse


Nach den Wahlen am 27.9.2009 veröffentlichte das Institut Infratest dimap eine Umfrage zur Wahl, in der es die Umfrageteilnehmer zu ihrer Konfession befragte. Die ev.-lutherische Wochenzeitung „Der Sonntag“ hat in der Ausgabe 40 vom 4.10.2009 einen Artikel dazu veröffentlicht, aus dem ich die folgenden Umfrageergebnisse entnahm:

Wähler der CDU/CSU sind mehrheitlich katholisch. (31% ev., 46 % kath., 22% konfessionslos)
Wähler der SPD mehrheitlich evangelisch. (29% ev., 18% kath., 21 % konf.-los)
Wähler der FDP setzen sich zu gleichen Teilen aus evangelischen, katholischen und atheistischen Menschen zusammen. (15% ev., 15% kath., 13 % konf.-los) Ebenso verhält es sich bei den Grünen. (11% ev., 9% kath., 13 % konf.-los)
Wähler der Partei Die Linke sind mehrheitlich konfessionslos. (9% ev., 6% kath., 23 % konf.-los)
Insgesamt nahmen an der Umfrage 32% ev., 34% kath. und 25 % konfessionslose Wähler teil.

Diese Analyse fand ich sehr interessant. Ich hatte noch nie vorher davon gehört, dass eine solche Umfrage existiert bzw. überhaupt gemacht wird. Sonst werden doch grade in der Wahlzeit alle möglichen Wahlstatistiken ausgewalzt, bis man nichts mehr aus ihren herausziehen kann, doch diese tauchte bisher nirgendwo auf. Wieso? Wovor hat man Angst? Oder zeigt diese Statistik etwas, was die Bürger (nach Meinung der Zeitungen) nicht erfahren sollen? Ich beschloss dem Thema weiter nachzugehen.
Die Literatur, die sich im Internet zur Kombination Wahl und Konfession finden lässt, ist gering, aber dafür um so prägnanter.

Adolf Kimmel hat in Quelle 1 eine umfangreiche Analyse zum Wahlverhalten der deutschen Bürger in vier verschiedenen Staatssystemen vorgenommen.
Er stellt dabei fest, dass in Deutschland die Konfessionszugehörigkeit beim Wahlverhalten immer noch eine große Rolle spielt und zwar eine viel größere als die Klassen- bzw. Schichtenzugehörigkeit, die weithin als wahlentscheidend angenommen wird. Ich möchte hier seine Ausführungen kurz zusammenfassen:
Schon bevor sich in der Industrialisierung Klassengegensätze herausbildeten, gab es einen tiefen Graben zwischen katholischen und evangelischen Christen, die Kirche war für das Leben vieler eine wichtige Instanz, die auch politisches Verhalten bestimmte.
Nach 1871 waren die Katholiken in einer deutlichen Minderheit und bildeten geschlossene, „sich nach außen abgrenzende, katholische Milieus“, die sich in Vereinen und in der „Deutschen Zentrumspartei“ organisierten. Der Zusammenhalt war groß. Bei den Evangelen gab es so etwas nicht. Sie waren in vielen Bereichen dominant und wählten dementsprechend verschiedene Parteien – nur nie die Zentrumspartei.
Die Kirchlichkeit war über die Jahre hinweg bei den Katholiken ein Grund gewesen „Ihre“ Partei zu wählen, bei den Protestanten wirkte sich die Mitgliedschaft in der Kirche in keiner Weise auf das Wahlverhalten aus, hier waren es andere Faktoren, die ausschlaggebend waren. In den Wahlen 1932 zeigte sich das besonders. Die NSDAP-Wähler kamen mehrheitlich aus dem Reihen der kirchenfernen Protestanten und Konfessionslosen, die Katholiken wählten eisern „ihre“ Zentrumspartei. Das lag nicht an ihrer festen demokratischen Gesinnung, sondern weil man eben immer „Zentrum“ wählte. (Hier verweist der Autor von Quelle 1 auf eine umfangreiche Untersuchung von Jürgen Falter.)
Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zwar regional in Deutschland zu einer konfessionellen Durchmischung, dennoch gliedert sich Deutschland weitgehend in den eher protestantischen Norden, den eher katholischen Süden und den „inzwischen überwiegend konfessionslosen Osten“.
Durch die deutsche Teilung war die Minderheitensituation der Katholiken spätestens 1976 endgültig beendet. Das katholische Milieu blieb zwar, aber der die klaren konfessionellen Trennlinien bauten sich parallel zu den Kirchenaustritten ab. Die neugegründete überkonfessionelle, christliche CDU/CSU wurde sofort von den Katholiken als Zentrums-Nachfolger akzeptiert, bot nun aber auch für die Protestanten eine Wahl-Option. Wobei die Protestanten die Unionsparteien nicht aus religiösen Gründen wählen, sondern aus politischen oder sozialen, im Gegensatz zu den Katholiken, bei denen das Milieu immer noch eine hohe politische Mobilisierungskraft besaß.
So viel zu dem Text von Adolf Kimmel.

Die anfangs aufgeführte Umfrage von infratest dimap bestätigt diese Tendenzen auch heute noch. Der katholische Süden wählt CDU/CSU, der protestantische Norden SPD und der eher konfessionslose Osten SPD oder Die Linke. Etwas hat sich aber doch verändert: Der Anteil der Katholiken, die regelmäßig zur Messe gehen. Diese Entwicklung ging auch an den Wahlergebnissen nicht spurlos vorüber. Eine verbindliche katholische Wahlnorm gibt es nicht mehr. Dass die CDU/CSU ihre Wahlergebnisse dennoch halten kann, verdankt sie politischen Faktoren, die ihr einen Stimmgewinn bei den Protestanten und Konfessionslosen einbringen. Auf der anderen Seite wirkt sich die Prägung als „kirchliche Partei“ immer noch aus, auch wenn die Kirchlichkeit mittlerweile geschwunden ist.

Kimmel erklärt die Wahlergebnisse der Union über den konfessionellen Faktor: In den neuen Ländern gibt es nur 5 % Katholiken, dagegen zwei Drittel Konfessionslose (in den alten Ländern nur 8% Konfessionslose). Die Wiedervereinigung hat also vor allem die Union stark in ihrer strukturellen Mehrheit geschwächt. Auch wenn die konfessionsgebundenen Wähler der Union von zwei Drittel auf ein Drittel gesunken sind, ist der Faktor Konfessionszugehörigkeit ein sehr starker Faktor, der viel mehr Einfluss auf das Wahlverhalten hat, als wir alle denken.

Was kann das für die Zukunft bedeuten?

Mit steigender Säkularisierung und der sinkenden Kirchlichkeit sinken die Wählerzahlen der konfessionell gebundenen Wähler, die vor allem in Union und SPD eine große Mehrheit ausmachen. Perspektivisch könnte man annehmen, dass die Ergebnisse dieser beiden großen Parteien bald sinken müssten, wenn sie kein eigenes Profil für Nichtkonfessionelle erstellen.
Vergleicht man die Statistiken von 1990 und 2009, so sank der Prozentsatz der Katholiken, die Union wählen um 12 %, derjenige der Katholiken, die SPD wählen immerhin um 6 %. Parallel dazu sank der Anteil der Protestanten, die Union wählen um 7 %, derjenige der Protestanten, die SPD wählen um 12 % (vgl. Quelle 2).
Sehr spannend in diesem Zusammenhang ist auch, dass 2009 40 % der Wähler der CDU und 30 % der Wähler der SPD über 60 Jahre alt waren. Das bedeutet, dass diesen beiden großen Parteien über kurz oder lang ihr Wählerstamm wegstirbt. Im Vergleich zu 1998 hat die CDU aber ihre Menge an 60+ Wählern gehalten, während die SPD ganze 10 % der Rentner als Wähler verloren hat.
Fakt ist, dass die Union sich seit 1945 stark gewandelt hat, von einer zuerst eher konfessionellen zu einer politischen Partei. Viel am Programm hat sich verändert. Den Gewohnheitswähler interessiert das politische Programm aber wahrscheinlich nur mäßig. Aber gerade das ist ja entscheidend. Demzufolge erzählen eigentlich nur die Ergebnisse bei den unentschlossenen Wählern wirklich, welche politischen Ziele im Volk wirklich Anklang finden und welche nicht. Das Volksinteresse lässt sich eigentlich nicht an den Wahlentscheidungen der Gewohnheitswähler festmachen.

Quelle 1: Kimmel, Adolf: Konfession und Wahlverhalten in Deutschland. In: Themenportal Europäische Geschichte (2008),  URL: http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=359. Abruf: 7. April 2014

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